Heliografie

1822–1833

heliography

Joseph Nicéphore Niépce, [Point de vue du Gras], ca. 1826, Heliografie auf Zinnplatte, 16,7 x 20,3, Gernsheim Collection, Harry Ransom Center, Texas

1826 oder 1827 fertigte der französische Fotopionier Joseph Nicéphore Niépce (1765–1833) die früheste, heute noch erhaltene Fotografie an. Diese zeigt den Hof seines Familiensitzes Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes aus seinem Arbeitszimmer. Das Bild war Ergebnis seiner Forschungen, die er bereits zehn Jahre zuvor ausgehend von Alois Senefelders (1771–1834) Erfindung der Lithografie aufgenommen hatte. Denn Niépce war ursprünglich auf der Suche nach einem Druckverfahren, das ermöglichen konnte, Kunstwerke einfach, schnell und zahlreich zu kopieren.
In seiner 1829 verfassten Notice sur l’héliographie schildert Niépce zwei verschiedene Verfahren zur Erzeugung fotografischer Bilder. Das erste Verfahren widmet sich der Kopie bereits vorhandener Zeichnungen oder Grafiken. Mit Firnis wird dafür eine grafische Papierarbeit durchsichtig gemacht und auf eine Unterlage aufgelegt, die mit einer lichtempfindlichen Schicht (Judäa-Asphalt) überzogen ist. Unter Lichteinwirkung verhärten sich die belichteten Stellen. Bei der anschliessenden Entwicklung mit Lavendelöl lösen sich die schwächer belichteten Abschnitte heraus und die Linien des Originals verbleiben lichtbeständig. Das zweite Verfahren umfasste die direkte Aufnahme von Ansichten (points de vue) mittels der Camera obscura. Niépce experimentierte hierfür mit zahlreichen, lichtempfindlichen Trägern: Papier, Stein, Metall. Als das geeignetste Material erwiesen sich polierte Platten aus Zinn mit einer Beschichtung aus Asphalt, das lichtempfindlich ist. Beide Bildverfahren wurden letztlich unter dem Begriff ‹Heliografie› zusammengefasst, der sich aus den griechischen Wörtern hélios (Sonne) und gràphein (beschreiben oder zeichnen) ableitet. Die Belichtungszeit belief sich auf eine halbe bis mehrere Stunden.
Heute befindet sich Niépces Blick aus dem Fenster im Harry Ransom Center in Austin, Texas. Helmut Gernsheim (1913–1995), deutscher Sammler und Verfasser einer der ersten Fotogeschichten, hatte 1952 nach langjähriger Suche das Bild wiederentdeckt, das 1963 vom texanischen Museum erworben wurde.

Literatur

Michel Frizot, «Die Lichtmaschinen. An der Schwelle der Erfindung», in Michel Frizot (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie (Köln: Könemann 1998), 15–21.

Helmut Gernsheim, «Vorstufen und frühe Entwicklungen», in Helmut Gernsheim (Hg.), Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre (Frankfurt a. M.: Prophyläen Verlag 1983), 11–41.

Bernadette Marbot, «Sur le chemin de la découverte (avant) 1839», in Jean-Claude Lemagny und André Rouillé (Hg.), Histoire de la photographie (Paris: Bourdas S.A. 1986), 11–18.

Jessica S. McDonald, «A Sensational Story. Helmut Gernsheim and the ‹World First Photograph›», in Tanya Sheehan und Andres Zervigón (Hg.), Photography and Its Origins (New York: Routledge, 2015), 15–28.