Lorna Mills, Cerebral Concrete, 2019
Der englische Begriff ‹Found Footage› kommt aus den Filmwissenschaften. Er bezeichnet das Arbeiten mit gefundenem (engl. found) (Film-)Material (engl. footage). Entsprechend wird zur Erstellung eines Films auf bereits vorhandenes Bildmaterial zurückgegriffen, das in neue Beziehungen zu anderen Bildern gesetzt wird. Das Material wird somit aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und es werden neue Bezüge hergestellt, wodurch eine Bedeutungsverschiebung stattfindet und eine neue Lesart der Bilder ermöglicht wird. Oftmals werden dabei gängige Darstellungs- und Erzählformen sowie vorherrschende Machtverhältnisse offengelegt oder das Medium und seine Nutzung hinterfragt. Diese Form des kritischen Erforschens und Wiederverwendens von Material aus Archiven, Amateursammlungen, aus Massenmedien, der Kunst, Popkultur oder Werbung findet auch in anderen Bereichen statt. Sie ist eng verwandt mit der Appropriationskunst (Appropriation = Aneignung), bei der fremdes Material kopiert und als das eigene weitverarbeitet wird, weswegen sich der Begriff der Found Footage auch auf andere Anwendungsformen ausserhalb der Filmkunst ausgeweitet hat.
Die Fotografie nimmt im Umgang mit Found Footage einen zentralen Stellenwert ein: Erst sie hat die technische Vervielfältigung – die sogenannte Reproduktion – und damit das massenhafte Kopieren, Zirkulieren und Archivieren von Bildern ermöglicht. Bereits in den späten 1910er-Jahren hat der Dadaismus, eine künstlerische Bewegung in Europa, mit reproduziertem Material aus den Massenmedien gearbeitet. So haben die deutschen Künstler_innen Hannah Höch (1889–1978) und John Heartfield (1891–1968) schon früh erste gesellschaftskritische und politische Fotocollagen erstellt, indem sie Fotos und Texte aus Zeitungen und Magazinen herausschnitten und neu kombinierten.
Hannah Höch, Dada-Rundschau, 1919, Foto, Collage, Gouache und Wasserfarbe, 43,7 x 34,6 cm, © Art Resource, NY
Das Arbeiten mit Found Footage bleibt in vielen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts und bis heute eine beliebte Strategie.
Mit dem World Wide Web steht heute ein unerschöpfliches Materialarchiv zur Verfügung. Netzkünstler_innen und zeitgenössische Filmemacher_innen wie Louis Henderson (*1983), Lorna Mills (Geburtsjahr unbekannt) oder Tabita Rezaire (*1989) durchforschen das Netz, um Archivbilder und zirkulierende Handy-Aufnahmen, dokumentarisches Material sowie Bruchstücke von Nachrichten, sozialen Medien sowie Pop- und Subkultur aus den unterschiedlichsten Zeiten und Quellen zu einer neuen Geschichte zu verknüpfen. Heute ist dank digitaler Technologie das Arbeiten mit Found Footage weit verbreitet und wird oft auch in Zusammenhang mit der Remix- oder Copy-Paste-Kultur (engl. für Kopieren) diskutiert.
Screenshot verschiedener Arbeiten von Malaxa, in der Mitte: Flag For God, 2016, Courtesy of the artists
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977 [1935]).
Christa Blümlinger, Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst (Berlin: Vorwerk 8, 2009).
Esther Buss, Isabelle Graw und Clemens Krümmel (Hg.), Appropriation Now!. Texte zur Kunst 46 (Juni 2002).
Domenico Quaranta (Hg.), Collect the WWWorld. The Artist as Archivist in the Internet Age (Brescia: Link Editions, 2011).